Kritische Auseinandersetzung – Warnung vor Sicherheitsrisiken & Grenzüberschreitungen in einem konkreten Fall

Wir stehen solidarisch hinter Betroffenen. Wir stellen das Konzept der Definitionsmacht als essentielles Werkzeug zum Schutz von Betroffenen auf keinen Fall in Frage! Gleichzeitig beobachten wir, wie das Konzept durch eine fragwürdige politische Praxis von Einzelpersonen politisch ausgehöhlt wird.

*Inhaltswarnung: Sexualisierte Gewalt, Täterschutz, psychische Gewalt, Polizei*

Hinter diesem Beitrag stehen unterschiedliche politische Gruppen und Personen aus Berlin. Wir schreiben den Text als Sammlung unserer Erfahrungen mit der Betroffenen X.. Wir wissen, dass viele politische Zusammenhänge in Berlin bereits in Berührung mit X. gekommen sind. Wir gehen davon aus, dass es weit mehr sind als die uns bekannten Strukturen und Personen. Wir denken deshalb, dass auch ohne Nennung eines Namens deutlich ist, auf wen sich dieser Text bezieht. **Wir zweifeln die Betroffenheit von X. nicht an! Gleichzeitig müssen wir vor X. und dem Verhalten einiger ihrer Unterstützungsstrukturen warnen.**

Wir wenden uns direkt an euch, weil wir das Gefühl haben, dass alle anderen Handlungsmöglichkeiten ausgeschöpft sind. Es gab vielfältige Versuche, einen Umgang mit X. zu finden. Dennoch besteht die Situation weiterhin seit mehreren Jahren. Unser „internes“ Schreiben ist eine bewusste Entscheidung. Uns geht es nicht darum, X. öffentlich für Bullen, Nazis, Täter und andere Schweine bloßzustellen. Es geht uns um Schutz von Strukturen und Personen vor einer zusätzlichen Gefährdung und dem Versuch weiteren Grenzüberschreitungen durch X. entgegenzuwirken.

Sexualisierte Gewalt ist ein großes Problem, auch innerhalb der radikalen Linken. Es fällt uns schwer, diese Zeilen zu verfassen, weil es keinen „richtigen“ Weg gibt, Betroffene und ihre konkrete Anwendung von Definitionsmacht (im Folgenden: DefMa) zu hinterfragen, ohne Gefahr zu laufen als Anknüpfungspunkt für antifeministische Positionen, Täterschutz und grundlegende Kritik an DefMA als Schutzkonzept missbraucht zu werden. Nochmal: Wir wollen mit diesem Text keine Taten relativieren oder Menschen ihre Betroffenheit absprechen, wir wollen DefMa als Konzept nicht angreifen. Vielmehr wollen wir das Konzept gegen eine zweckentfremdete Anwendung verteidigen.

**Die Betroffenheit von X. steht dabei nicht zur Debatte. Wir glauben X., dass sie Gewalt erlebt hat. Gleichzeitig pflegen X. und einige ihrer Supportstrukturen einen Umgang mit Betroffenheit, der eine politische Aufarbeitung nicht nur massiv erschwert, sondern geradezu verunmöglicht. In bisherigen (versuchten) Aufarbeitungsprozessen kam es zu vielfachen Grenzüberschreitungen. Zahlreiche politische Strukturen in Berlin sind im Zuge dieser Auseinandersetzungen seit Längerem gelähmt oder gefährdet.**

**Unsere Berührungspunkte mit X.**

Wir sind Menschen aus unterschiedlichen Projekten, Gruppen und Zusammenhängen, für die Feminismus kein Nebenwiderspruch ist. Wir sind alle mit X. in Kontakt gekommen, weil sich die Person seit einigen Jahren in unterschiedlichen Spektren der linken Szene Berlins bewegt. Wir haben alle erlebt, wie sie uns in verschiedenen Kontexten schilderte, dass sie einen sexuellen Übergriff überlebt hat. Für uns war vom ersten Moment an klar: Wir glauben X.! Täter müssen ausgeschlossen werden! Alle von uns, die auf X. trafen, verhielten sich solidarisch und unterstützend.

Der Kontakt zu X. kam u.a. auf Partys oder Barabenden zustande. In solchen offenen Rahmen, wo ebenfalls Alkohol konsumiert wurde, forderte sie mehrfach unbekannte Menschen auf, ihnen ihre Betroffenheit schildern zu können. Andere Menschen wurden gezielt von X. vor Veranstaltungen kontaktiert. Dabei bat sie in der Regel um persönliche Gespräche, um ihre Betroffenheit zu schildern und einen sicheren Platz auf geplanten Veranstaltungen zu fordern.

**Wie liefen Prozesse mit X. ab?**

Die ersten Gespräche mit X. verliefen oft relativ identisch. Sie eröffnete das Gespräch mit ihrer Betroffenheit, nannte im weiteren Verlauf der Gespräche vor allem Namen von vielen Personen, die Täterschutz betreiben sollen. Der Täter selbst wurde in einigen Fällen nur teilweise oder gar nicht benannt. Uns ist bisher kein (interner oder öffentlicher) Outcall gegen den Täter bekannt.

In den meisten Auseinandersetzungen mit X. ging es nicht darum, Täter aus Kontexten auszuschließen, sondern um riesige Netzwerke an Personen, die den Täter vermeintlich kennen und schützen sollen.

So erhebt X. etwa Täterschutz-Vorwürfe gegenüber ganzen Kollektiven und Gruppen, die sich bis zum Ende ihrer Kapazitäten solidarisch mit X. zeigten.

Um diese Vorwürfe aufzuklären, haben einige von uns einen vertieften Kontakt zur Unterstützung von X. gesucht. Die angebotenen Gesprächsrahmen in dafür geschaffenen professionellen Awarnesssituationen wurden häufig nicht von X. wahrgenommen. Termine wurden oftmals kurzfristig von X. abgesagt oder verschoben. In Gesprächen gestaltete es sich schwer, mit X. professionell zu kommunizieren. Forderungen wurden mehrfach und auch kurzfristig geändert. Zudem erschien sie zu Aufarbeitungsprozessen trotz anderslautender Vereinbarungen im Vorfeld ohne Supportstruktur. Obwohl X. stets behauptete, eine Supportstruktur zu haben, wurde vielen von uns nicht transparent gemacht, wie mit dieser in Kontakt getreten werden kann. Das führte unweigerlich dazu, dass X. in den entsprechenden Gesprächen mehr Belastungen ausgesetzt war, da sie die Prozesse selbst verhandelte. Gleichzeitig erschwerte diese Situation auch Aufarbeitungsprozesse insgesamt, weil es keinen oder kaum Austausch mit dem Supportnetz gibt.

Als Resultat der Gespräche mit X. fällt auf, dass es sich bei den Personen, die von ihr als maßgebliche Täterschützer:innen angeführt wurden, zumeist um FLINTA* aus feministischen Zusammenhängen handelt. Selbstverständlich sind auch Personen aus feministischen Gruppen nicht frei davon, sich täterschützend zu verhalten. Dieses Muster, insbesondere der großen und vermuteten bzw. undurchsichtigen Kontaktketten, hinterlässt bei uns Fragen.

Nach allen Prozessen, die in der Vergangenheit mit X. verhandelt wurden, bleibt für viele von uns weiterhin unklar, um wen es sich bei dem oder den Tätern handelt. Es lässt sich demnach für viele nicht nachvollziehen, ob tatsächlich Kontakte bestehen zwischen Tätern und Personen, die X. als Täterschützer:innen beschuldigt. Wir sind uns einig: Täter gehören ausgeschlossen! Doch ohne ein Wissen, um wen es sich handelt, ist es für alle unmöglich, sich von Tätern zu distanzieren. Auch passiver Täterschutz – also der Schutz eines Täters ohne zu wissen, um wen es sich handelt – kann nur unterbunden werden, wenn es Klarheit darüber gibt, wer Täter sind.

Bislang kennen wir vor allem Namen von einer fast dreistelligen Personenanzahl an Menschen aus unterschiedlichen Kollektiven, Gruppen und Hausprojekten, die (basierend auf Vermutungen, nicht auf tatsächlichen Erfahrungen von X.) den/die Täter schützen sollen. **Wir finden die Art und Weise, nicht mehr über eigene Betroffenheit zu sprechen, sondern Täterschutznetzwerke zu vermuten, nicht zielführend im Umgang mit Definitionsmacht.**

Wir sind uns einig: zuerst müssen Täter benannt werden. Erst danach können Maßnahmen ergriffen werden, wenn es Personen gibt, die benannte Täter weiterhin schützen.

**Grenzüberschreitungen**

Abseits von vereinbarten Gesprächen begibt sich X. immer wieder in öffentliche Kontexte, wie etwa Partys, Tresenabende oder andere Veranstaltungen, und fordert dort ohne Vorankündigung oder Rahmensetzung eine sofortige Aufarbeitung gegen die vermuteten Täterschutz-Netzwerke ein. X. fiel immer wieder damit auf, dass sie in solchen „öffentlichen“ Situationen, also im Beisein von zahlreichen Unbeteiligten, eine Aufarbeitung und Gespräche in dem Moment forderte, um über ihre Betroffenheit zu sprechen.

Wenn Menschen in diesen konkreten Momenten ablehnten, mit ihr über ihre sexuelle Gewalterfahrung zu sprechen, führte dies dazu, dass X. vielen Personen direkt oder im Nachhinein ebenfalls Täterschutz vorwarf. Die Argumentation läuft dabei wie folgt: *Wer meine Erfahrungen nicht hören will oder kann, scheint den Täter zu kennen und ihn mit der Ablehnung zu schützen.*

Wir können nachvollziehen, dass es sich Scheiße anfühlt, wenn eine Betroffene bereit ist, über ihre Erfahrungen zu reden und abgewiesen wird. Es gibt sicherlich nie den „absolut richtigen“ Rahmen, um über sexualisierte Gewalt zu sprechen. Gleichzeitig sind wir alles unterschiedliche Personen: Manche haben selbst Gewalterfahrungen und schaffen es emotional nicht, ohne Vorbereitung und als zufällig Anwesende auf einer Party mit dem Thema konfrontiert zu werden. Die Grenzen anderer Personen, insbesondere wenn sie nur als „unbeteiligte Dritte“ auf einer Party anwesend sind, müssen berücksichtigt und geschützt werden! Zudem sollten Awareness-Gespräche im professionellen Rahmen und nüchtern geführt werden. Wir finden es demzufolge legitim, dass Menschen nicht immer und überall sofort bereit sind oder waren, mit X. zu sprechen.

Wenn X. abgewiesen wurde, forderte sie erneut Aufarbeitungsprozesse mit Gruppen und Einzelpersonen, denen sie auf dieser Basis Täterschutz unterstellte. X. forderte ihre Definitionsmacht somit in zahlreichen Fällen ein, bei denen es gar nicht darum geht, dass die von ihr beschuldigten Personen konkrete Gewalt gegen sie ausgeübt haben oder Täter in Schutz nehmen. Es handelt sich hierbei um Situationen, in denen Personen lediglich nicht mit ihr (in den Momenten) sprechen wollten/konnten. Wir empfinden dieses Verhalten als Ausnutzung des Definitionsmacht-Konzepts.

**Politische Zweckentfremdung von DefMa**

Wir sprechen X. NICHT ihre Gewalterfahrungen und ihre Betroffenheit ab. Wir glauben ihr, dass sie Gewalt erfahren hat und möchten, dass Täter ausgeschlossen werden. Wovor wir allerdings warnen möchten, ist vor der Anwendung eines Definitionsmacht-Anspruches auf Situationen, die außerhalb der Möglichkeiten des Konzeptes liegen. Nur weil eine Person in einer Situation nicht mit X. sprechen möchte, ist die Person noch lange nicht Teil eines vermuteten Täterschutz- Netzwerkes. Vermutete Netzwerke aus Täterschützer:innen basieren unseren Beobachtungen nach nicht auf nachprüfbaren Tatsachen, sondern auf Spekulationen. Allein die Größe der angegebenen Nezwerke sowie ihre wechselnden Zusammensetzungen sind in der Form nicht glaubwürdig. Die absolute Mehrzahl der angeschuldigten Personen weiß nicht, wer der Täter im jeweiligen politischen Umfeld sein soll, weil dieser von X. nicht benannt wurde. All dies macht es uns schwer zu wissen, was an den Anschuldigungen von X. wahr ist und wo die Spekulation anfängt.

Dennoch forderte X. vielfach Aufarbeitungsprozesse im Fall der vermuteten Täterschutz-Netzwerke ein. Wenn die entsprechenden Personen versuchten, die Forderungen von X. zu erfüllen, liefen anknüpfende Prozesse über kurz oder lang aus den vorhin bereits genannten Gründen ins Leere. Es kam in kaum einem Fall zu Diskussionen zum Umgang mit dem Täter und konkrete Aktionen gegen Täter blieben aus. Auf diese Weise führen die Anschuldigungen von X. dazu, dass viele politische Strukturen in Berlin fürchten müssen, dass ein Täter bei ihnen aktiv sein könnte oder sie unbewusst einen Täter schützen, ohne etwas dagegen unternehmen zu können. Das Verhalten von X. und ihrem Umfeld verlängert somit die Bedrohungslage, die es zu bekämpfen vorgibt.

Zudem verhielt sich X. in Verhandlungsprozessen gegenüber den beteiligten Parteien vermehrt grenzüberschreitend. Konkret geht es um massenhafte, nächtliche Nachrichten und Anrufe, sowie der Androhung von öffentlichen Täterschutzvorwürfen, wenn Personen sich nicht nach ihren Vorstellungen verhalten.

Unseren Erfahrungen nach gerät zuerst eine Person in besonderen Fokus von X. Von dieser Person wird dann ein enormes Maß an Aufmerksamkeit eingefordert, was oftmals persönliche Grenzen überschreitet. In mehreren Fällen hat X. Falschinformationen über die von ihr fokussierten Personen verbreitet, bei denen es nicht um konstruierten Täterschutz geht. In einigen Situationen ist davon auszugehen, dass das durchaus bewusst geschah.

Dieses Verhalten baut einen enormen psychischen Leidensdruck auf und hat für uns reale Konsequenzen im alltäglichen und politischen Leben. Wir wissen von vielen Personen, die aufgrund der Anschuldigungen von X. in ihrer politischen Arbeit gehemmt sind oder von ganzen Gruppen, die sich aufgrund der Vorwürfe zerstritten und/oder aufgelöst haben.

**Umgang mit Supportstrukturen**

Wie bereits erwähnt ist X. zu verabredeten Treffen und geforderten Konfrontationen entweder gar nicht oder – trotz anderer vorheriger Vereinbarung – ohne Supportstruktur erschienen. Menschen, die mit X. in Kontakt standen, erhielten oftmals keine Kontaktmöglichkeiten zu einer etwaigen Supportstruktur.

Wir wissen, dass X. über die letzten eineinhalb Jahre von verschiedenen Supportstrukturen und Einzelpersonen begleitet wurde. Einige dieser Strukturen haben die Zusammenarbeit inzwischen beendet.

Der inflationäre Gebrauch von Täterschutzvorwürfen schwächt die Position von Betroffenen und erschwert eine politische Supportarbeit. Tatsächliche Täterschützer:innen können sich dahinter verstecken, dass das „ja eh alles eine Flut substanzloser und kostruierter Vorwürfe“ sei. Vorwürfe gegen Täter gehen dabei unter.

**Sicherheitsrisiko**

Abschließend wollen wir darauf Hinweisen wie das Verhalten von X. politisch aktive Strukturen und einzelne Aktivist:innen gefährdet – neben der bereits angesprochenen Verwässerung des Definitionsmacht-Konzepts.

X. versucht im Rahmen von Gesprächen gezielt herauszufinden, wer in welchen Kontexten aktiv eingebunden ist und zu welchen Strukturen welche Personen gehören. Wir verstehen den Beweggrund von X., vermeintliche und tatsächliche Täter-Kontakte nachvollziehen zu wollen. Gleichzeitig haben wir mehrfach erlebt, wie sie in öffentlichen Räumen freigiebig mit diesem Wissen und Informationen über (vermeintliche) Gruppen und Aktionen umgegangen ist. Das ist ein Sichherheitsrisiko für linke Strukturen!

Zudem gab es mehrere Situationen, in denen X. die Bullen gerufen oder mit ihnen kooperiert hat. Wir würden keine Betroffenen verurteilen, die in schweren Gewaltsituationen keinen Ausweg mehr sehen und sich an die Bullen wenden. Klar ist, wie schäbig das System und die Bullen Betroffene behandeln. Gleichzeitig hätten die uns bekannten Situationen, in denen X. die Bullen anrief, auch ohne diese geklärt werden können.

Der Staat versucht linke Strukturen bei jeder sich bietenden Gelegenheit schärfer mit Repression zu überziehen. Wir vermissen bei X. ein Handeln, dass dieser Tatsache gerecht wird. X. hat in manchen Fällen Repressionsorgane als Druckmittel benutzt, um eigene Interessen durchzusetzen. Das ist extrem gefährlich! X.’s Handeln im Umgang mit Cops und Definitionsmacht ist ein Sicherheitsrisiko. Wir verurteilen es, ein solches gefährliches Verhalten zu dulden oder aktiv zu ermöglichen.

Wir denken, dass das DefMa-Konzept nicht in Form von vermuteten Täterschutz- Netzwerken angewendet werden kann. Wir hoffen, dass sich eine adäquate Hilfe für X. findet. Wir wollen Täter und Täterschützer aus unseren Zusammenhängen ausschließen und aktiv gegen Täter vorgehen. Solange uns dies nicht ermöglicht wird, weil die Diskussion um Täter derart verwässert wird, müssen wir vor X. warnen, um linke Strukturen und DefMa zu schützen. **Diese Äußerung bezieht sich auf den konkreten Fall und ist nicht allgemein gültig.**

Wir wollen mit unserem Schreiben den bisherigen Kreislauf der individualisierten Auseinandersetzung mit X. und ihren Vorwürfen durchbrechen.

**Es gilt eine kollektive Antwort auf dieses Verhalten zu finden, das in seinen Auswirkungen Einzelpersonen und Strukturen massiv gefährdet.**